Professor über digitale Dienste und Geräte: Suchtverhalten wie bei Kokain

Digitale Medien und Kommunikationsmittel prägen unseren Alltag. Teilweise haben wir uns so sehr an sie gewöhnt, dass wir ein Suchtverhalten zeigen, wenn sie uns entzogen werden. Gleichzeitig sorgt permanente Erreichbarkeit für eine Art Psychoterror, der Menschen verändert. 

Prof. emeritus Christoph Türcke, Autor des Buches „Digitale Gefolgschaft„, will den Menschen daher die Ambivalenz digitaler Technologien vor Augen führen. Die Digitalisierung bringe den Menschen eine große Zahl an Vorteilen und sei extrem attraktiv, da sie das Belohnungszentrum im Gehirn permanent anspreche. Gleichzeitig berge sie viele Gefahren, mit denen sich die Menschen aktiv auseinandersetzen müssten. Er empfiehlt eine radikale Dosierung und Einschränkung des Smartphonekonsums auf das Wesentliche, um die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen, ohne ihren Risiken zu erliegen.

Smartphonekonsum erzeugt Suchtverhalten

Die Sucht nach SmartphonesWer sich vorstellt, das Smartphone einmal einen Tag lang aus der Hand zu legen, fühlt sich vermutlich unwohl. Zu groß ist die Angst, etwas zu verpassen oder an einer wichtigen Kommunikation nicht teilzunehmen. Ähnliche Reaktionen zeigen Menschen bei der Vorstellung, dass Google einmal einen Tag lang sämtliche seiner Dienste einstellen könnte. Auch solche Angebote haben viele Menschen so eng in ihren Alltag eingewoben, dass es für sie schmerzhaft wäre, sie zu entfernen.

Entsprechend warnt Christoph Türcke, Professor em. für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, vor den Risiken der Digitalisierung in einem Gespräch auf deutschlandfunk.de. In seinen Augen erzeugen digitale Medien eine Abhängigkeit und ein Suchtverhalten, wie es sonst nur von Kokain und ähnlichen Substanzen erzeugt wird. Entsprechend groß seien die Entzugserscheinungen, wenn einem die digitalen Kommunikationsmittel entzogen würden. Diese Radikalität und die Geschwindigkeit, mit der diese Sucht um sich gegriffen hat, sei erstaunlich. Immerhin gebe es das Smartphone erst seit gut einem Jahrzehnt.

Ständige Präsenz der digitalen Medien fördern die Abhängigkeit

Ein Smartphone ruft sich seinen Nutzern ununterbrochen ins Gedächtnis. Es meldet sich mit Benachrichtigungen, lockt mit interessanten Inhalten und eröffnet den Zugang zur gesamten Welt. Information, Kommunikation und Selbstinszenierung gehen Hand in Hand und eröffnen zunächst einmal unendliche Möglichkeiten. Durch diese permanente Präsenz fällt es Menschen aber zunehmend schwerer, sich von ihren digitalen Medien zu lösen. Beim Sport tragen sie Fitnessarmbänder, in der Schule müssen sie in Whatsapp-Gruppen präsent sein und beruflich spielen digitale Technologien ebenfalls eine zunehmende Rolle.

Türcke zufolge führe diese Entwicklung zu einer fehlenden Fokussierung auf den Alltag und die Arbeit. So würden sich Schülerinnen und Schüler nicht mehr auf ihre Hausaufgaben konzentrieren, weil sie immer mit einem Auge zum Smartphone schielen würden. Und auch die Eltern – die ein solches Verhalten vorleben – würden einen Großteil ihrer Konzentration auf die digitalen Medien richten. Hierdurch machten sie sich einerseits abhängig von den Geräten und würden andererseits in eine Spirale fehlender Aufmerksamkeit kommen, die es zu durchbrechen gelte.

Der Unterschied von Smartphones zu anderen Medien

Nun hat es Ablenkungen und Störungen im Arbeitsalltag schon immer gegeben. So konnte beispielsweise der Chef auch über die früheren Festnetztelefone anrufen und in den Alltag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingreifen. Türcke unterstreicht, dass die Einführung des Telefons ähnliche Reaktionen ausgelöst hat, wie die digitalen Medien heutzutage. Es war für die Menschen zunächst ein Schock, permanent erreichbar zu sein und zu nahezu jeder Tages- und Nachtzeit einen Anruf bekommen zu können. Er vergleicht diese Art des Schocks mit Bildschnitten in einem Film. Jeder Bildschnitt würde die Botschaft übermitteln: „Achtung! Jetzt kommt etwas Neues“.

Digitale Medien behalten ihm zufolge diese Grundstruktur bei, potenzierten sie bloß. So sei jede Nachricht, die auf dem Smartphone auftauche, eine Art „Schock“, der die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer radikal auf sich ziehe. Das „Achtung!“ tauche also nicht gezielt an bestimmten Punkten auf, wie das im Film der Fall sei, sondern permanent. Aus einem „Schock“ werden Milliarden „Schocks“, was sich zwangsläufig auf die Konzentration der Menschen auswirke und es ihnen nahezu unmöglich mache, sich wirklich konzentriert und kontinuierlich mit einer Sache zu beschäftigen, da sie permanent unterbrochen würden.

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Funktioniert eine Anpassung des Gehirns an die Digitalisierung?

Es stellt sich die Frage, ob sich der Mensch nicht nach und nach an die Digitalisierung gewöhnen könnte. So haben viele bei der Erfindung der Eisenbahn gewarnt, die Seele des Menschen käme mit der Geschwindigkeit nicht mit, auf die der Körper beschleunigt würde. Dennoch gehören Eisenbahnfahrten und teilweise sogar Überschallflüge heute zu unserem Alltag. Warum sollte sich der Mensch also nicht auch an die digitalen Technologien anpassen und das Gehirn Strategien entwickeln, um mit den neuen Gegebenheiten klarzukommen?

Türcke sieht das ein wenig anders. Er gibt zu, dass das menschliche Gehirn dehnbar und anpassungsfähig sei. Hieraus könne man aber nicht ableiten, dass sich der Mensch an alles gewöhnen und an alles anpassen könne. Um dies zu belegen, bemüht er ein Beispiel aus der Weltraumforschung der USA aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Hier hätte man versucht, den Menschen durch eine Weltraummedizin auf das Leben in der Schwerlosigkeit und im Weltall vorzubereiten. Die Idee war: Wenn man den Menschen nur ausreichend trainiere und konditioniere könnte er sich an das Leben im Weltall problemlos anpassen. Diese Forschungen seien jedoch stillschweigend wieder eingestellt worden, weil sich zeigte, dass die körperliche und geistige Adaptionsfähigkeit des Menschen seine Grenzen habe.

Der Einfluss von Smartphones auf zwischenmenschliche Beziehungen

Ein Reiz von digitalen Medien besteht darin, dass sie Beziehungspflege ermöglichen. Menschen sind in der Lage, Kontakt zu nahezu jedem anderen Menschen auf der Welt aufzunehmen. Gerade Schülerinnen und Schüler würden ihre Smartphones vor allem zur Beziehungspflege nutzen. Die Kooperation in Teams und bei der Arbeit gelingt dank Datenaustausch und schneller Kommunikation besonders effizient. Gleichgesinnte können sich über das Internet besonders leicht vernetzen und gemeinsame Projekte anstoßen. All diese Möglichkeiten bringen der Menschheit viele Vorteile. Wiegen diese die Fokussierung der Menschen auf ihre digitalen Geräte nicht auf?

Türcke gibt zu bedenken, dass die Beziehungspflege über digitale Medien zunächst einmal nur indirekt erfolge. Es fände eben keine direkte Kommunikation statt, sondern jeder Mensch beschäftige sich vor allem erst einmal mit seinem Smartphone und nicht mit anderen Menschen. Wenn die Familie am Tisch sitzt und jeder stellt über das Smartphone Beziehungen her, ohne eine Beziehung zu den anwesenden Familienmitgliedern aufzubauen, sei das schon ziemlich absurd. Ebenso wirke es sich auf die Art der Beziehung zwischen Eltern und Kindern aus, wenn das Smartphone als Spielzeug verstanden würde, mit dem ein Kind beschäftigt und ruhiggestellt werden könnte.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist für Türcke die Flüchtigkeit digitaler Beziehungen. Ein Freund bei Facebook ist eben doch etwas anderes als ein Freund im echten Leben. Wenn eine digitale Freundschaft anstrengend würde, ziehe man sich einfach wieder zurück. Beziehungspflege und der Umgang mit schwierigen Situationen sei nicht mehr nötig. Hierunter krankten auch politische Bewegungen. Sie können kurzfristig eine große Zahl an Menschen über digitale Medien erreichen und mobilisieren. Eine nachhaltige Aufrechterhaltung von Beziehungen gelinge hingegen so gut wie nie.

Digitale Technologien sind hochgradig ambivalent

Die Quintessenz aus Türckes Darlegungen ist, dass es sich bei digitalen Technologien um hochgradig ambivalente Medien handelt. Die Digitalisierung und die mit ihr einhergehenden Möglichkeiten sind fantastisch und bringen den Menschen riesige Vorteile. Gleichzeitig birgt sie extrem große Risiken, mit denen die Menschheit lernen muss, umzugehen. Am Beispiel der Beschleunigung zeigt sich das gut: Es ist doch toll, dass Menschen immer und überall miteinander kommunizieren und sich global vernetzen können. Gleichzeitig führt diese Beschleunigung zu einem Verlust an Konzentration und Nachhaltigkeit, der das gesellschaftliche Miteinander erschwert.

Für Türcke gibt es daher nur einen Königsweg im Umgang mit der Digitalisierung: radikale Dosierung. Die Menschen müssen digitale Technologien genau dort einsetzen, wo ihre Stärken voll zum Tragen kommen, und sie aus anderen Lebensbereichen möglichst komplett heraushalten. Er vergleicht die Digitalisierung mit dem Feuer. Dieses sei eine hohe kulturelle Leistung gewesen, die den Menschen vorangebracht und sein Leben radikal verändert habe. Ungezähmt sei Feuer jedoch extrem gefährlich und in der Lage, riesige Schäden anzurichten. Entsprechend bestehe die Aufgabe in Bezug auf die Digitalisierung darin, das Medium zu zähmen, seine Stärken zu nutzen, ihm aber eine ungebremste Ausbreitung zu verwehren.

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