Digitalisierung und Bewusstsein: Generalisten-Mindset für die Transformation der Gesellschaft

Ein Gastartikel von ...

Simone Belko
Simone Belko
Simone Belko ist Sprachwissenschaftlerin und Europawissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf digitaler Kompetenz. Mit Erfahrungen im Journalismus, PR-Management, Marketing und Training hat sie sich in Deutschland und im Ausland hervorgetan. Als Managerin für digitale Produkte in der Online-Spiele- und FinTech-Branche gewann sie tiefe Einblicke in die Funktionsweise von Online-Plattformen und Communities. Simone ist Autorin des Buches "Das digitale Bewusstsein" und arbeitet derzeit bei der Otto GmbH, wo sie ihre Expertise im Bereich Business Transformation einsetzt.

Die digitale Transformation der Gesellschaft fordert unser Bewusstsein heraus. Lernen müssen wir nicht nur handwerkliche IKT-Skills, sondern auch die Sozialtechnik des Netzwerkens im neuartigen digitalen Kosmos. Die Creator Community erfordert kritisches Denken und aktives Selbstlernen von Digitalkompetenzen. Unternehmen müssen in digitale Selbstbestimmung ihrer Mitarbeiter, ein Generalisten-Mindset und eine partizipative Unternehmenskultur investieren, wollen sie erfolgreich sein.

Permanente Revolution statt Business as Usual ist das neue Credo. Technologische Innovationen haben unseren Alltag innerhalb von wenigen Jahrzehnten maßgeblich verändert und ein Ende des Wandels ist nicht in Sicht. Die Digitalisierung hat unsere Mediennutzung intensiviert und uns gleichzeitig neue Möglichkeiten der Teilhabe eröffnet. Wir kommunizieren in Echtzeit von einem Ende der Welt bis ans andere miteinander – und das rund um die Uhr. Die Digitalisierung bringt neue Lebens- und Arbeitsmodelle hervor und befreit Individuen aus veralteten Orts- und Rollenzwängen.

Die Beschleunigung von Geld- und Warenströmen hat komplett neue Geschäftsmodelle entstehen lassen: Digitale Plattformen, Software und Apps ermöglichen Solounternehmern und Kreativen Geldbeschaffung über Crowdfunding und die Verwirklichung von eigenen Ideen mit reduziertem Aufwand. Erwartet uns eine schöne neue Welt von autonomen Individuen, die mit ihren Herzensprojekten ihren Lebensunterhalt bestreiten können?

Industrie 4.0 erfordert gemeinsame Anstrengungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern

Das Schlagwort Industrie 4.0 polarisiert. Die digitale Transformation verändert nicht nur Infrastruktur und Wertschöpfungsketten. Die intelligente Vernetzung von Mensch und Maschinen ändert auch unsere Haltung zur Arbeit und zum Leben. Erforderten früher langwierige, genormte Prozesse klare Aufgabenbereiche und Abläufe, benötigt die Smart Factory der Zukunft permanente Anpassung an sich schnell ändernde Rahmenbedingungen. Aber wer profitiert von der Digitalisierung und dem scheinbar alternativlosen Drang nach mehr Flexibilisierung? Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz erhofft sich von der sogenannten vierten Revolution die Unterstützung von ökonomischen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen.

Paradoxerweise haben aber Automatisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) bis jetzt nicht dazu geführt, dass wir weniger arbeiten und besser leben – im Gegenteil: Viele Jobs in der Plattformindustrie sind von schlechten oder unsicheren Arbeitsverhältnissen und geringem Verdienst geprägt. Nicht immer sind technologische Lösungen also von Vorteil, wenn sie gewachsene Strukturen vor Ort verdrängen oder zerstören. Es sollte vielmehr darum gehen, die vorhandenen Strukturen, wo nötig, im gemeinsamen Interesse der Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch digitalisierte Prozesse zu ergänzen und zu optimieren.

Wir leben in Zeiten des rasanten Neuordnung bestehender Verhältnisse – zumindest fühlt es sich so an. Die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts steht vor massiven Herausforderungen. Die Globalisierung hat neue Handlungsfelder der Weltpolitik eröffnet, die mithilfe von Technologie und Innovation gelöst werden sollen. Herausforderungen in Umweltschutz und Gesundheit, das Voranbringen gemeinsamer internationaler Regulierungen und Anpassungen der nationalen Sicherungssysteme stehen an, die lange vernachlässigt wurden. Datenbasierte Geschäftsmodelle versprechen neue Formen der Monetarisierung, indem sie u. A. bei Entscheidungsprozessen und Produktoptimierungen unterstützen. Gleichzeitig durchdringt das globale Netzwerk lokale Strukturen und verändert unser Leben bis in die Privatsphäre hinein. Die Grenze, an der digitale Software, Apps und Gadgets von nützlichen Helfern zu risikoreichen Ausspähern und Manipulatoren unserer Gewohnheiten und bürgerlichen Freiheiten werden, ist fließend.

Mediale Kommunikation ist keine Einbahnstraße, sondern gleicht eher einer Feedbackschleife. Über Social Media, Messenger und Apps sind wir unaufhörlich in Kontakt mit vertrauten und weniger vertrauten Menschen, haben Zugang zu verschiedenen Märkten und sind Teil von zahlreichen Communites mit ganz eigenen Interessen. Das Publikum hat sich vom Konsumenten zum Prosumenten gemausert und bestimmt heutzutage Inhalte in der medialen Öffentlichkeit selbst mit, anstatt von Medienautoritäten top-down belehrt zu werden. Dies führt dazu, dass immer mehr marginalisierte Gruppen, die vormals nicht wahrgenommen wurden, sich übers Internet Gehör verschaffen. Die Folge: der demokratische Entscheidungsprozess wird bereichert, aber auch verkompliziert. Politik, Unternehmen, Medien und die Zivilgesellschaft sind gleichermaßen gefragt, diese neuen Tools der Internetöffentlichkeit zur proaktiven Zusammenarbeit zu nutzen.

Selbstbestimmte Prosumenten gestalten die software-unterstützte Creator Economy

Digitalisierung und Internet haben unser Bewusstsein und unsere Erwartungen an die Gesellschaft verändert. Während die ältere Generation ihre Information noch über klassische Kanäle wie Fernsehen, Radio, Magazine, überregionale Zeitungen und Lokalblätter sucht, verwenden junge Leute das Internet täglich als Informationsquelle. 49% der unter 35jährigen verfolgen laut einer Studie das politische Geschehen täglich im Internet, 37% benutzen dafür soziale Medien. Während als traditionelle Bürgernormen „das Recht anderer auf eigene Meinung respektieren“ (90%) und „sich an Gesetze halten“ (84%) gelten, zählen zu den wichtigsten Normen für die vernetzte Gesellschaft „auf Wahrheit in Nachrichten achten“ (85%),„Information aus seriösen Quellen beziehen“ (75%) und „Hetze und Hass in Diskussionen entgegentreten“ (73%). Die Aufmerksamkeit und Erwartungshaltung von einem weitgehend reaktiven Publikum, das passiv Toleranz einforderte, hat sich zu aktiver, kritischer Teilnahme selbstbewusster Prosumenten verschoben.

Was bedeutet das für Unternehmen? Im digitalen Raum gelten andere Gesetze als in der alten Medienöffentlichkeit. In der Software-unterstützten Creator Economy haben neben dem klassischen Journalismus erstmals Hobbyblogger, Selbstständige, aber auch Unternehmen die Möglichkeit mit gutem Content Reichweite zu erzielen und ihre Marke dem Publikum direkt zu präsentieren. Aber oftmals sind die Digital Natives oder Immigrants von einem Informationsüberfluss umgeben, vor dem sie sich kaum retten können. Die Folge: Übersättigung und Ermüdung. Für Unternehmen ist es eine große Herausforderung, mit innovativen Medienformaten die notwendige Reichweite zu erzielen, um ihre Community zu erreichen. Ad hoc Werbekampagnen oder klassische Marktforschung reichen nicht mehr aus; langfristiges Community Building mit interaktiver Zielgruppenansprache und Einbindung der Kunden in den Prozess der Produktentstehung werden immer wichtiger.

Die aktive Beteiligung einer heterogenen Community in der Internet-Öffnentlichkeit hat Vor- und Nachteile. Die Durchdringung des öffentlichen Raumes mit unterschiedlichen Lobbyinteressen und die Diversität von Weltbildern haben die Wahrheitsfindung verkompliziert: Informationsseriösität ist zum Problem geworden. Verschiedene kulturelle Narrative treffen aufeinander und treten in Konkurrenz miteinander. Die Breite an Information ermöglicht es, gleichzeitig verschiedene bereichernde Perspektiven auf die Welt kennenzulernen. Aber der Einzelne ist viel stärker in seiner Selbstverantwortung gefragt zu beurteilen – das gilt gleichermaßen für Kunden, Unternehmensführung und Mitarbeiter. Gleichzeitig ist die Erwartung an Unternehmen groß, sich zu bestimmten Themen wie Nachhaltigkeit oder sozialer Verantwortung zu positionieren. Dazu werden weitreichende Digitalkompetenzen und Mündigkeit zur erfolgreichen Kommunikation benötigt.

Digitale Mündigkeit als Schlüsselkompetenz für souveränen Umgang mit der Technologie

Wie erreicht man Mündigkeit? Grob gesagt, ist Mündigkeit die Fähigkeit, mit seinem Denken die veränderten Rahmenbedingungen in der Gesellschaft kritisch auszuloten. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen und ist maßgeblich dadurch bestimmt, selbst aktiv zu positiver Veränderung beizutragen. Nach Immanuel Kant, dem großen deutschen Philosophen der Aufklärung, ist Mündigkeit die Selbstbefähigung zur freiheitlicher Verantwortung, von der jeder Einzelne öffentlichen Gebrauch machen soll. In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft der Moderne, die uns laut Theodor Adorno – Philosoph und Soziologe der „Kritischen Theorie“ – in ein konformistischen Massenbewusstsein zwängt, wird es zum Mut zur Nonkonformität. Beim Erkenntnistheoretiker Karl Popper ist der mündige Bürger ein Sozialtechniker, der Veränderung durch Einzelschritte seiner kritischen Fähigkeiten erreicht.

Mündigkeit ist also eine bestimmte Haltung zur Umwelt, die man am besten als dynamisches Selbsthinterfragen und konsequentes Eintreten für Austausch und Wahrheitsfindung beschreiben kann. Jede Realität erfordert ihre eigenen, an die Zeit angepassten Kompetenzen. In Bezug auf die Realität der Digitalisierung bedeutet Mündigkeit zum einen Souveränität, Selbstbestimmtheit und Offenheit in der Nutzung digitaler Angebote, zum anderen den bestmöglichen Selbsterhalt und Wahrung der Unversehrtheit des virtuellen Raumes. Konkret heißt das ein konstruktiver Umgang mit digitalen Räumen, der auf Verantwortung und Wissen basiert.

Wie kann der Einzelne mit seinen Fähigkeiten dazu beitragen, die digitale Gesellschaft und digitale Geschäftsmodelle aktiv mitzugestalten? Ich unterteile digitale Mündigkeit als Oberbegriff in sieben Digitalkompetenzen, die alle gleichermaßen notwendig sind. Grundlagen sind die Befähigung zur sicheren und geschützten digitalen Kommunikation (Technical Literacy, Privacy Literacy) und der kritische Umgang mit Wissen (Information Literacy). Erweiterte Kenntnisse sind die proaktive Nutzung digitaler Systeme, um sich mit Ideen zu beteiligen (Social Literacy) und an der demokratischen Veränderung der Systeme mitzuwirken (Civic Literacy). Für die Sozialtechnik des Netzwerkens sind psychologische und kulturelle Kompetenzen besonders relevant: Ein hohes Maß an Selbstkenntnis und -beherrschung und Kenntnisse darüber, wie technische Geräte und Algorithmen die individuelle Gesundheit beeinflussen (Resilience Literacy), außerdem und das Verständnis dafür, dass man sich in einem Ökosystem unterschiedlicher kulturhistorischer Bedingungen bewegt, das durch widersprüchliche und komplexe Kontexte gekennzeichnet ist (Cultural Literacy). Je nach persönlichen Fähigkeiten, Ausbildung und beruflichen Hintergründen sind diese Digitalkompetenzen notwendigerweise bei Jedem unterschiedlich stark ausgeprägt.

Digitalkompetenzen

Unternehmerische Innovation benötigt die Kunst der Auslegung von Wissen

Digitale Mündigkeit schließt aber viel mehr als Digitalkompetenzen ein, nämlich ein verändertes Identitätsverständnis. Identität im digitalen Zeitalter ist ein emanzipatorischer Prozess. Es ist kein statischer Zustand, sondern die Fähigkeit zum Selbstlernen und des Einnnehmens einer Meta-Ebene. Statt einmaligen Kompetenzerwerbs tritt das lebenslange Lernen in einer VUCA-Welt in den Vordergrund. Der Mensch ist nicht länger in festgelegten Rollen gefangen, sondern entwickelt sich dynamisch. Für die Persönlichkeitsentwicklung sind dabei vor allem ganzheitliche Eigenschaften wie Achtsamkeit und Ethik entscheidend. Die Anhäufung von Fachwissen wird obsolet, da sie von KI-Systemen übernommen werden kann. Was umso wichtiger wird, ist die Kunst der Auslegung von Wissen, die das Abwägen komplexer Perspektiven in einem breiten Kontext möglich macht.

In einer interaktiven Peer-Community ist die ständige Erweiterung des Horizonts notwendig, um den Zeitgeist zu verstehen und neue Trends zu entdecken. Dies setzt generalistisch geschulte Mitarbeiter voraus, die sich flexibel an ändernde Marktbedingungen anpassen können und gleichzeitig eine innovative Denkweise entwickeln. Unternehmen müssen dafür nicht nur das passende Umfeld schaffen, in dem Mitarbeiter kreativ sein können und sich wertgeschätzt fühlen, sondern sich stärker auf die individuelle Mitarbeitentwicklung konzentrieren. Neue Arbeitsmodelle, die dies fördern, sind wechselnde Rollen in Projektteams, Job Rotation, eine offene Fehlerkultur und eine integrative Führung, die auf Mitarbeiter-Coaching statt Befehle setzt. Statt in Abteilungshierachien zu denken, geht es darum, das Unternehmen als lebendiges Netzwerk zu verstehen, dass durch vielseitige Verbindungen gekennzeichnet ist.

Nicht die Technologie entscheidet über Erfolg, sondern eine partizipative Unternehmenskultur

Die Digitalisierung kann für Unternehmen erhebliche Potentiale für Effizienzsteigerung und Kostensenkungen freisetzen. Aber die Einführung neuer Technologien allein reicht nicht. Wichtig ist, dass die Mitarbeiter die neuen Technologien zu ihrem Vorteil einzusetzen verstehen, sonst werden sie sie ablehnen. Dazu sollte man sich genau überlegen, wann und wozu man digitale Software und KI verwendet – erleichtern sie die Übernahme von Verantwortung oder eher verstärkte Kontrolle? Werden sie für mehr Entscheidungsfreiheit der Angestellten eingesetzt oder für mehr Überwachung? Erleichtert Software das allgemeine Arbeitspensum oder schafft es eher neue Arbeitsbereiche und Problemfelder? Verbessert die Software die interne bzw. externe Kommunikation oder behindert sie sie durch redundante oder schlecht genutzte Informationskanäle?

Digitale Lösungen können enorm dabei helfen, wiederkehrende Prozesse zu organisieren und zu vereinheitlichen. Sie erleichtern das Netzwerken, das kollaborative Arbeiten und das Wissensmanagement. Vor allem kommt es aber auf den richtigen Umgang mit der Technologie an, der erlernt werden kann. Wenn Unternehmen dem Verlangen der jüngeren Generationen nach mehr Sinnhaftigkeit gerecht werden wollen anstatt „Bullshit-Jobs“ zu schaffen, sollten sie ihnen helfen ihre intrinsische Motivation zu entdecken und zu fördern. Dies gelingt am besten mit einer partizipativen Unternehmenskultur, die alle Mitarbeiterebenen in die strategische Unternehmensentwicklung mit einbezieht. Technologie ohne konkrete Zielsetzung einzuführen geht meist nach hinten los. Man sollte sich im Klaren sein, welches Leitbild die Corporate Identity verfolgt. Voraussetzungen sind sowohl intern als auch extern eine klar kommunizierte unternehmerische Vision, die den Input der Community ernst nimmt und in Stimulierung von Fortschritt überführt. Dann kann die digitale Transformation gelingen.

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