Die Professorin für Erziehungswissenschaften Jutta Wiesemann hat ein Forschungsprojekt unter dem Titel „Frühe Kindheit und Smartphones“ realisiert. In diesem wurde der Einfluss digitaler Medien auf die Entwicklung kleiner Kinder untersucht. Hiernach sind Smartphones im Alltag von Familien sehr präsent und nehmen Einfluss darauf, wie Kinder sich selbst und andere wahrnehmen. Wir stellen einige der wichtigsten Erkenntnisse vor, die Wiesemann aus der Untersuchung gezogen und in einem Interview mit Kristina Reiss auf tagblatt.ch präsentiert hat.
Man mag es mögen oder verteufeln, aber das Smartphone gehört zum Alltag der meisten Familien dazu. Viele Eltern nutzen es, um ihren Kindern ein Unterhaltungsprogramm zu bieten, während sie selbst kochen, waschen oder putzen. Andere setzen das Smartphone ein, um Konflikte zu lösen. Wenn ein Kind nicht baden möchte und verspricht, am nächsten Tag zu baden, wird dieses Versprechen als Beweis mit dem Smartphone aufgenommen. So sollen Diskussionen am nächsten Tag vermieden werden.
Starre Regeln wie: „Ein Kind darf frühestens mit drei Jahren ein Video auf dem Smartphone ansehen“ oder „Ein eigenes Smartphone gibt es frühestens mit 14“ gehen an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei. In zahlreichen Familien haben die Smartphones Namen und heißen mitunter sogar „Papa“. Hieran zeigt sich die Bedeutung, die solche Geräte für Familien haben und wie natürlich und ungezwungen Kinder mit ihnen umgehen.
Früher waren Kinder das, woran sie sich erinnern konnten. Einige Geschichten der Eltern haben die Identität geprägt, ansonsten lief das eigene Leben linear anhand der Erinnerungen ab, die man selbst hatte. Heutzutage entwickelt sich die Identität von Kindern viel weniger linear. Sie bekommen schon früh Videos davon zu sehen, wie sie ihren ersten Brei essen, die ersten Schritte machen oder das erste Wort sprechen. Kinder erinnern sich an ihr Leben nicht allein anhand von Erinnerungen, die sie selbst haben, sondern immer häufiger durch Videos und „Beweismittel“. Somit entwickelt sich die Identität von Kindern als ein bunter Flickenteppich von Erlebnissen, an denen sie aktiv und als Zuschauer gleichermaßen teilgenommen haben.
Kinder begreifen schnell, dass ihr Leben nicht mehr allein ihnen gehört, sondern zu etwas wird, das geteilt und veröffentlicht werden kann. Entsprechend erkennen Kinder schöne und peinliche Bilder und Videos sehr früh und bitten darum, dass diese nicht veröffentlicht werden. Eltern sollten diesen Wunsch unbedingt respektieren, um die Privatsphäre ihres Kindes zu schützen und seine Entwicklung nicht negativ zu beeinflussen.
Wer den Raum verlässt, ist weg. Das gilt in Zeiten digitaler Medien nicht mehr. Mittels Videochats und Videokonferenzen können Menschen anwesend sein, die sich am anderen Ende der Welt befinden. Das kann der Papa sein, der sich auf Geschäftsreise befindet, oder die Oma, die Corona bedingt nicht mehr zu Besuch kommen kann. Für Kinder ist eine solche digitale Präsenz von einer tatsächlichen nur bedingt zu unterscheiden. Wenn Eltern sagen „Nächste Woche sehen wir Oma wieder“ sind Kinder oft irritiert, da sie Oma ja regelmäßig auf dem Smartphone sehen und sich mit ihr beschäftigen.
Jutta Wiesemann plädiert für einen aktiven Umgang mit digitalen Medien im Allgemeinen und Smartphones im Speziellen. Sie sagt, dass diese Geräte zum Lebensalltag dazugehören und man damit umgehen müsse. Neue Technologien seien immer schon verteufelt worden und das sei beim Smartphone nicht anders. Hirnforscher, die Gefahren für die gesunde Entwicklung und das Kindeswohl sehen, würden ihrer Meinung nach Eltern nur verunsichern und ihnen ein schlechtes Gewissen machen, wenn sie ihre Kinder mit digitalen Medien in Kontakt bringen. In anderen Kulturen wie Indien sei das Smartphone ein Spielzeug von vielen. Ein solcher weniger panischer Ansatz sei wünschenswert.
Dennoch sei es wichtig, dass sich Eltern aktiv mit ihren Kindern über die digitalen Technologien unterhalten und klare Regeln aufstellen. Hierzu könnte „Das Smartphone hat am Esstisch nichts zu suchen“ gehören. Wenn es solche Regeln gibt, müssen sie aber konsequent von allen Familienmitgliedern eingehalten werden. Wiesemann ist davon überzeugt, dass digitale Medien nicht zu Schwierigkeiten in einer Familie beitragen, sondern vorhandene Probleme und Defizite lediglich sichtbar werden lassen.
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